Seit der Berliner Luftbrücke vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949 wurden die amerikanischen Militärs in Deutschland als Freunde in der Not geschätzt. Doch dies war nichts im Vergleich zu der Amerika-Euphorie, die der Deutschlandbesuch des 35. Präsidenten der USA 14 Jahre später auslöste. Wie es um die innenpolitische Bilanz von John F. Kennedy bestellt war, scherte die Deutschen herzlich wenig. Was für sie zählte, waren sein Charisma und sein außenpolitisches Auftreten. »JFK« verkörperte das Bild eines Politikers, dessen Qualitäten alles in den Schatten stellte, was Amts- und Würdenträger der BRD zu bieten hatten – charismatisch, gutaussehend, jung, dynamisch, nervenstark, besonnen – und dann auch noch Haupt einer vorgeblichen Bilderbuchfamilie. Die Eindämmung des Kommunismus aller Schattierungen bildete den Markenkern seiner außenpolitischen Agenda – ein blindwütiger »Kalter Krieger« war Kennedy nicht. Er befahl verdeckte Operationen und gab seine Zustimmung zu Stellvertreterkriegen, die fernab der roten Linien und neuralgischen Punkte des Weltgeschehens ausgetragen wurden – in heikleren Fällen übte er Vorsicht. Im Oktober 1962 konfrontierte die »Kuba-Krise« Kennedy mit einem fürchterlichen Dilemma. Amerikanische Aufklärungsflugzeuge hatten entdeckt, dass auf der Karibik-Insel – nur knapp 200 Kilometer von der Küste Floridas entfernt – von der Sowjetunion Atomraketen stationiert worden waren. Er befahl die Errichtung einer Seeblockade, gab aber dem Drängen der »Hardliner« aus seinem Beratungsstab nicht nach, die Raketenbasen mit einem sofortigen Militärschlag zu zerstören, weil er wusste, dass dies die Welt in den Abgrund eines Atomkriegs reißen würde. Stattdessen setzte er auf Deeskalation. In von ihm genehmigten Geheimverhandlungen mit der UdSSR wurde ein Übereinkommen erzielt, das den Interessen beider Konfliktparteien Rechnung trug: Die Sowjetunion erklärte ihre Bereitschaft, die Raketen aus Kuba abzuziehen. Im Gegenzug sicherten die USA zu, keine weitere militärische Invasion Kubas zu unternehmen und ihre Jupiter-Raketen aus der Türkei zu entfernen, von denen sich der Ost-Block bedroht sah. Teil des Deals war, dass diese amerikanische Verpflichtung in der offiziellen Vereinbarung beider Staaten keine Erwähnung fand. Dank dieser imagewahrenden Geheimklausel stand Kennedy am Ende des Konflikts als unbeugsamer Vertreter westlicher Interessen da und als besonnener Politiker, der den drohenden Dritten Weltkrieg abgewendet hatte. Die weltweite Erleichterung war riesengroß. Mit diesem Erfolg im Rücken konnte sich Kennedy einem seiner unerledigten Fälle zuwenden. Im August 1961 hatte die DDR mit dem Bau der Berliner Mauer« begonnen, um der Abwanderung ihrer Staatsbürger in den Westen einen Riegel vorzuschieben. Deutsche Politiker appellierten an Kennedy, umgehend harte Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Statt durch unüberlegte Taten einen mörderischen Schlagabtausch mit der UdSSR zu riskieren, wiegelte Kennedy ab. Die Bild-Zeitung titelte »Der Westen tut NICHTS! Präsident Kennedy schweigt«. Die so angefachte Enttäuschung kippte in ihr Gegenteil um, als Kennedy 1963 zu einem demonstrativen Deutschland-Besuch aufbrach. Allein sein Kommen reichte als Signal, dass der amerikanische Präsident und »Führer der westlichen Welt« niemanden in seiner Not allein ließ. Wo immer Kennedy Station machte, jubelten ihm ungeheure Menschenmassen begeistert zu. Der legendäre Satz »Ich bin ein Berliner« aus seiner Rede am 26. Juni vor dem Rathaus Schöneberg in West-Berlin ist bis heute unvergessen. Die kurzen 1.036 Tage von Kennedys Präsidentschaft endeten am 22. November 1963 im Kugelhagel des Attentats von Dallas. Das fassungslose Entsetzen und die Trauer der deutschen Bevölkerung kannten keine Grenzen.

 

CHRONOLOGIE DES WIESBADEN-BESUCHS VOM 25. JUNI 1963

Um 18:20 Uhr landete der Hubschrauber des Präsidenten vor dem Steuben-Hotel, wo ihn bereits tausende jubelnde Wiesbadener erwarteten. Nach einer kurzen Ruhepause und einem Gespräch mit dem deutschen Vizekanzler Ludwig Erhard startete der US-Präsident gegen 19:30 Uhr im offenen Lincoln seinen Triumphzug durch eine gut 100.000 starke Menschenmenge, die sich entlang der Friedrich-Ebert-Allee und der Wilhelmstraße drängte. Bei Eintreffen des Präsidenten vor dem Kurhaus, wo sich noch einmal 30.000 Menschen versammelt hatten, spielten sich tumultartige Szenen ab. Ein starkes Polizeiaufgebot verhinderte das Durchbrechen der Absperrungen. Der „Wiesbadener Kurier“ sprach von einem „Hexenkessel der Begeisterung“. Der Präsidenten-Empfang in dem mit 20.000 Blumen geschmückten Kurhaus wurde vor diesem Hintergrund fast zur Makulatur. Die über 400 geladenen Gäste, darunter 76 hochrangige Amerikaner aus Militär, Regierung und Wirtschaft, kamen nur für gut 30 Minuten in den Genuss präsidialer Nähe. Im Anschluss an die Willkommensansprache des Hessischen Ministerpräsidenten Georg-August Zinn, den Eintrag ins Goldene Buch der Stadt und zahllose „Shakehands“ verließ Kennedy gegen 20:30 Uhr „seinen“ Empfang in Richtung Steuben-Hotel, nicht ohne ein abschließendes Bonmot als Krönung des Abends: Wenn er einmal das Weiße Haus verlassen werde, wolle er seinem Nachfolger einen Brief hinterlassen, den dieser in der Stunde größter Depression öffnen möge. Darin stünde Kennedys persönlicher Rat: „Besuchen Sie Deutschland!“