Das geflügelte Wort von der »Stunde Null« klingt nach einem »unbelasteten Neuanfang«, nach »reinem Tisch«. 1945 gab es in Wiesbaden keinen reinen Tisch. Existenzen waren zerstört, Familien zerrissen. Es herrschten Hunger und Not. Es fehlte an Treibstoff und Heizmaterial. Selbst Wasser stand nicht im notwendigen Maße zur Verfügung. Von insgesamt 15.011 Wohngebäuden waren 1.593 total zerstört, 1.041 schwer beschädigt, 1.572 mittelschwer beschädigt, 8.886 leicht beschädigt und nur 1.919 voll intakt. Trotz der Einweisung mehrerer Parteien in eine Wohnung war ein echtes »Dach über dem Kopf« nicht allen beschieden. Nicht wenigen blieb nur die Notunterkunft in einer »Trümmerhütte«. Auch die Straßen waren vielerorts in einem erbärmlichen Zustand – zerrissen von Bombenkratern, begraben unter Schutt und Asche. Wege freiräumen, Fahrbahndecken ausbessern, jeden fahrbaren Untersatz flottmachen – die drängendsten Herausforderungen der ersten Nachkriegsmonate waren ohne Abstimmung nicht zu bewältigen. Doch die erforderliche Kommunikation bereitete erhebliche Schwierigkeiten. Alle Postämter waren geschlossen. Der Telefon- und Telegrammverkehr lag still. Die Brieftauben hatte man eingezogen. Hinzu kam ein am 9. April 1945 von der amerikanischen Militärregierung verfügtes Versammlungsverbot: »Zivilpersonen dürfen in der Zeit von 19.00 Uhr bis 7.00 Uhr (Ortszeit) ihre Häuser nicht verlassen. […] Ansammlungen von mehr als 5 Personen in der Öffentlichkeit oder in Privatwohnungen zu Diskussionszwecken sind verboten.« Wollten Deutsche sich vernetzen, mussten sie recht kreativ mit »Recht und Gesetz« umgehen und jede Menge Improvisationsvermögen beweisen. Bei der Selbstversorgung mit Lebensnotwendigem wie Kohlen und Brot war das Wandeln auf krummen Wegen an der Tagesordnung. In einer legendär gewordenen Predigt kommentierte dies der Kölner Kardinal Josef Frings am 31. Dezember 1946 mit den Worten: »Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann.« Von da an hieß das Stehlen aus blanker Not bei vielen bedürftigen Menschen nur noch »fringsen«. Auch in Wiesbaden wurde nach Kräften »gefringst« – sprich: alles eingeheimst, was nicht niet- und nagelfest oder sicher verwahrt war. Bis sich die Zeiten merklich besserten, dauerte es lange: Noch 1951 waren nicht alle öffentlichen Gebäude hinreichend beheizt – zum Teil wurden Schüler angehalten, selbst Brennmaterial mitzubringen, damit in den Klassenräumen für erträgliche Temperaturen gesorgt werden konnte.

Bild: Gleise beim Bahnhof Chausseehaus; Quelle: Stadtarchiv 004776 Foto Willi Rudolph